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Superfetation (SF) ist die erneute Konzeption während bereits bestehender Trächtigkeit. Dieses Phänomen wird für den EFH schon lange vermutet. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im Rahmen eines experimentellen Ansatzes in einer Zuchtpopulation (Feldforschungsstation des IZW) mit der Frage der Existenz der SF und seiner Funktionsweise. Die Fragestellung entwickelte sich als Fortsetzung einer Studie des IZW zur Reproduktionsfähigkeit von freilebenden EFH in Nordrhein-Westfalen.
Insgesamt wurden 663 bzw. 163 Untersuchungen an 55 verschiedenen weiblichen bzw. 34 männlichen Individuen durchgeführt. Dabei wurden 159 Trächtigkeiten in 45 Häsinnen diagnostiziert und ausgewertet. Die Datenaufnahme erstreckte sich über drei vollständige
Zuchtsaisonzyklen.
Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Studie lassen sich wie folgt darstellen:
1. Charakterisierung der pränatalen Entwicklung des EFH:
Mit Hilfe von Langzeitultraschalluntersuchungen an tragenden Häsinnen wurde die sonografische Erscheinung der pränatalen Entwicklung sowie der Ovarien und deren Funktionskörper qualitativ und quantitativ beurteilt. Weiterhin wurden endokrinologische Aspekte und Störungen der pränatalen Entwicklung untersucht.
- Die mittlere Trächtigkeitsdauer betrug 41,9 ± 0,8 Tage (n=35).
- Es wurden neun verschiedene biometrische Parameter an den Konzeptus gemessen,
sowie die qualitative Entwicklung ultrasonografisch beurteilt. Mit Hilfe der linearen und nichtlinearen Regression wurden Wachstumskurven für die gesamte pränatale Entwicklung berechnet. Daraus wurden Gleichungen zur Berechnung des Gestationsalters einer tragenden Häsin erstellt.
- Qualitativ wurden typische sonografische Eckpunkte für verschiedene Trächtigkeitsstadien beschrieben. Hervorzuheben ist die sonografische Detektion von Gelbkörpern (C.ll.) am 3. Tag post conceptionem (p.c.) und die erste Detektion von Keimblasen am 6. Tag p.c.
- Die Entwicklung der C.ll. wurde verfolgt und für die gesamte Trächtigkeit dargestellt. Dies schloss die postnatale Regression ein. Daraus wurde ein mathematisches Modell berechnet. Die follikuläre Entwicklung folgte keinem spezifischen Schema.
- Der Serumprogesteronspiegel (P4) stieg bis zum 10. Tag p.c. bis auf ein Plateau an, erhöhte sich kurz vor der Geburt und fiel dann auf basales Niveau ab. Im Serumestrogenspiegel (E2) ließen sich keine Gesetzmäßigkeiten erkennen.
- Embryonale Verluste und Resorptionen traten in mehr als der Hälfte der Trächtigkeiten auf. Die Arbeit liefert detaillierte Beschreibungen zur sonografischen Detektion und Diagnostik dieser Phänomene. In 3,5% der Trächtigkeiten kamen embryonale Retardierungen vor.
Aus allen Eckpunkten wurde ein Schema zur Beurteilung des Gestationsalters einer Häsin mit unbekanntem Deckzeitpunkt erstellt.
2. Existenz und Funktionsweise der Superfetation:
- Die mittlere Zwischentragezeit bei permanenter Anpaarung betrug 38,1 ± 1,1 Tage und war signifikant kürzer als die physiologische Trächtigkeitsdauer (n=18, p<0,0001).
- Bei temporärer Anpaarung kurz vor der Geburt entstanden in 33% der Fälle neue Trächtigkeiten.
- Bei ultrasonografischen Untersuchungen um den Geburtszeitpunkt konnten C.ll. und Keimblasen früher als bei einer Befruchtung nach der Geburt möglich detektiert werden. Damit gibt es eindeutige Kriterien zum ultrasonografischen Auffinden der SF: Der Nachweis von C.ll. unterschiedlicher Größe und Beschaffenheit in einer hochtragenden Häsin ist ein Hinweis auf SF.
- Bei gezielten Eileiterspülungen an hochtragenden Häsinnen (n=6) wurden embryonale Stadien im Eileiter parallel zu voll ausgebildeten Feten in utero gefunden.
- SF wurde durch einen fruchtbaren Rammler in 54% der möglichen Fälle ausgelöst.
- Zum Testen der Hypothese der Spermienspeicherung wurden hochtragende Häsinnen mit vasektomierten Rammlern angepaart. Das führte trotz Ovulation nicht zu SF.
- Desweiteren wurde mit Hilfe der Mikrosatellitenanalyse die Vaterschaft der Rammler aus der Kopulation vor der Geburt bestätigt (n=5).
- Das ist die erste Studie, in der SF mit künstlicher Besamung ausgelöst wurde (n=6).
3. Folgen der Superfetation für den Reproduktionserfolg:
- Unabhängig von der Art der Insemination war die mittlere Ovulationsrate bei Trächtigkeiten mit SF (3,8 ± 1,1) signifikant höher als bei Trächtigkeiten ohne SF (3,0 ± 1,4) (p=0,0009).
- Bei 60,5% der SF war mindestens eine der Trächtigkeiten, ob vorhergehende oder folgende SF-Trächtigkeit, bilateral. Eine einseitige Trächtigkeit mit der Möglichkeit des Spermiendurchtritts ist demnach keine Voraussetzung für die Entstehung von SF.
- Die mittlere Wurfgröße war bei Trächtigkeiten mit SF (3,1 ± 1,1 JH (n=35)) signifikant höher als bei Trächtigkeiten ohne SF (2,3 ± 1,1 JH (n=96)) (p=0,0003).
- Es konnte insgesamt ein deutlicher Trend dazu beobachtet werden, dass bei Trächtigkeiten mit SF der Anteil männlicher Junghasen signifikant höher war als ohne SF.
- Die absolute pränatale Verlustrate unterschied sich nicht zwischen Trächtigkeiten mit und ohne SF. Rein rechnerisch ist durch die erhöhte Ovulations- und Wurfrate der relative
Anteil der pränatalen Verluste mit SF niedriger als ohne SF.
Schlussfolgerungen:
SF trat bei EFH in der Zucht häufig auf. Zum Zeitpunkt der Geburt befanden sich die neuen Embryonen noch im Eileiter. Die Entstehung von SF war nicht auf die Speicherung von Sperma aus einem früheren Deckakt zurück zu führen. Bei der Analyse von Daten aus einer früheren Studie wurden Hinweise zum Auftreten von SF bei EFH im Freiland gefunden. SF stellt eine evolutionäre Anpassung dar und hat möglicherweise einen erheblichen positiven Effekt auf das Populationswachstum. Eine Umbenennung des Phänomens der „Superfetation“ beim EFH in „Superkonzeption“ wäre angebracht.