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Warum wir entscheiden wie wir entscheiden?
Wolfgang Heuwieser, Sebastian Arlt und Viola Dicty
Freie Universität Berlin, Tierklinik für Fortpflanzung
www.tiergyn.de
Einleitung
Tagtäglich werden in jeder tierärztlichen Praxis zahlreiche klinische Entscheidungen gefällt. Dazu gehören unter
anderem die Auswahl diagnostischer Verfahren, die Anwendung bestimmter Therapien beim Einzeltier oder das
Umsetzen von Behandlungsprotokollen für Tiergruppen sowie das Empfehlen spezifischer prophylaktischer
Maßnahmen.
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum Sie bei einem bestimmten Fall so und nicht anders
entscheiden? Diese Frage ist nicht nur akademisch hoch interessant sondern auch für die Wirksamkeit Ihrer
Behandlungen und damit für den langfristigen Erfolg Ihrer Praxis von größter Wichtigkeit.
Grundsätzlich gibt es vier Gründe für eine bestimmte klinische Entscheidung. Diese sind Tradition, persönliche
Erfahrung, Plausibilität, wissenschaftliche Ergebnisse.
Tradition
Zunächst ist festzustellen, dass Tradition - auch wenn es altmodisch klingt- zu den Tugenden unseres beruflichen
Wertesystems zählt. So basiert ein Grossteil der geburtshilflichen Maßnahmen auf traditionellen Erfahrungen des
tierärztlichen Berufsstandes, die sich immer wieder bewährt haben. Ein anschauliches Beispiel stellt das Einbringen
von Fruchtwasserersatz zur Erleichterung eines Auszuges dar. Diese Maßnahme hat sich im Laufe der Jahre als
äußerst wirksam herausgestellt. Sie gehört einfach zu dem geburtshilflichen Erfahrungsschatz (sprich Tradition)
und bewährt sich in der Geburtshilfe immer wieder von neuem.
Andererseits erleben wir in der Medizin und Tiermedizin jedoch einen schnellen und enormen Wissenszuwachs.
Die Halbwertszeit medizinischen Wissens beträgt nur wenige Jahre. Wir alle partizipieren an dem medizinischem
Fortschritt. Andererseits können wir erleben, dass eine bestimmte Therapie in relativ kurzer Zeit obsolet wird. Ein
überzeugendes Beispiel aus der Buiatrik stellt die Enukleation eines Gelbkörpers bei einer Pyometra des Rindes
dar. Während diese Methode früher einheitlich anerkannt war, gilt sie mittlerweile durch die preiswerte
Verfügbarkeit zahlreicher Prostaglandin F2a Präparate als Kunstfehler. Die erhebliche Risiken (Verbluten) bestehen
bei der neuen Alternative nicht.
Persönliche Erfahrung
Beim Gedankenaustausch zwischen Tierärzten ist immer wieder die Aussage zu hören: ?Meine Erfahrung ist, dass
Medikament X bei Erkrankung Y gut wirkt?. Auch hier ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. So haben die
persönlichen Beobachtungen zahlreicher Kollegen zweifelsfrei zu dem hoch entwickelten Stand der buiatrischen
Diagnostik und Therapie erheblich beigetragen. Auch stimulieren diese Beobachtungen immer wieder Forscher,
die im Rahmen von mehr oder minder exakten wissenschaftlichen Untersuchungen die in Frage stehenden
Zusammenhänge aufgreifen und prüfen. Deshalb ist die Formulierung derartiger Beobachtungen als
Arbeitshypothesen außerordentlich wünschenswert. Andererseits sollte ständig selbstkritisch hinterfragt werden,
ob die persönliche Erfahrung solide genug ist, um derartige Beobachtungen ?insbesondere bei ?neuen?
Behandlungsmethoden grundsätzlich auf ein größere Patientenpopulation zu übertragen. In der Regel wird die
persönliche Erfahrung an einer (viel zu) geringen Tierzahl gemacht. Weitere erhebliche Schwächen der
persönlichen Erfahrung bestehen in dem Fehlen von Kontrollgruppen, der nicht zufälligen Zuordnung von
Versuchstieren und einer nicht verblindeten Durchführung. Der Vollständigkeit halber weisen wir darauf hin, dass
auf persönlicher Erfahrung basierende therapeutische Maßnahmen den gesetzlichen Vorgaben entsprechen
müssen.
Plausibilität
Jedem Tierarzt stehen umfangreiche Kenntnisse aus verschiedenen Disziplinen wie Physiologie, Pharmakologie,
Mikrobiologie zur Verfügung. Diese können plausible Gründe darstellen, eine bestimmte Therapie anzuwenden.
Allerdings ist zu bedenken, dass pharmakologische Wirkstoffe nicht immer den theoretisch ?plausiblen?
Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Dies liegt daran, dass die Wechselwirkungen zwischen Organismus, Erkrankung,
Erregern und Umwelt ungleich vielschichtiger und komplexer sind als dies häufig in der ?grauen Theorie?
erfassbar und darstellbar ist. Beispielsweise ist bei der Indikation Umbullen der Einsatz on Gonadotropin Releasing
Hormon (GnRH) als Bleibespritze durchaus plausibel. Eine Zusammenfassung von 17 wissenschaftlichen
Untersuchungen in Form einer Metaanalyse demonstriert überzeugend wie schwierig es ist, die Wirksamkeit einer
vollkommen plausibel erscheinenden Intervention zu beweisen.
Wissenschaftliche Ergebnisse
Wissenschaftlich exakt erhobene Ergebnisse stellen ohne Zweifel die beste Grundlage für eine klinische
Entscheidung dar. Die Ergebnisse basieren auf klinischen Studien, die im Idealfall präzise geplant (u.a. Tierzahl,
Zuordnung, Kriterien für Ein- und Ausschluss), überwacht umgesetzt (Kontrollgruppe, Verblindung, Monitoring)
und statistisch exakt ausgewertet worden sind. Durch entsprechende Publikationen stehen die Ergebnisse allen
Interessierten zur Verfügung. Allerdings bestehen erhebliche Unterschiede in der Qualität von Untersuchungen.
Die Qualität von wissenschaftlichen Ergebnissen wird als Evidenz bezeichnet. Die Evidenz beschreibt die
Sicherheit, mit der die gezogenen Schlussfolgerungen in der Untersuchung die wahren Sachverhalte (d.h. wie sie
in der Natur tatsächlich vorkommen) zuverlässig repräsentieren. Somit bezeichnet Evidenz die Zuverlässigkeit, mit
der die an einer kleinen Studienpopulation erhobene Wirkung auf eine andere oder größere Population übertragen
werden kann. Für Ihren tierärztlichen Alltag bedeutet Evidenz die Sicherheit, mit der Sie den Erfolg einer viel
versprechenden neuen Behandlung tatsächlich auch an einem entsprechenden Fall in Ihrer Praxis reproduzieren.
Entsprechend ihrer Qualität können die Veröffentlichungen zu medizinischem Fachwissen in vier Evidenzstufen
eingeteilt werden.
Eine Evidenz der Stufe I liegt nur bei Metaanalysen randomisierter, kontrollierter Studien und bei einer
randomisierten, kontrollierten Studie vor. Mithilfe von Metaanalysen werden die Ergebnisse mehrerer Studien
zusammengefasst und ausgewertet sowie übergreifende Schlussfolgerungen gezogen (siehe Arlt et al 2007 in
diesem Band). Diese Studien bieten daher die größtmögliche Sicherheit, dass die Ergebnisse auf die gesamte
Population übertragen werden können. Derartige Studien sind in der Veterinärmedizin bisher nur begrenzt
vorhanden.
Weniger zuverlässig sind die Ergebnisse gut angelegter, kontrollierter Studien ohne Randomisierung.
Die Stufe III erreichen gut angelegte, nicht experimentelle deskriptive Studien, während Berichte oder Meinungen
von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten in die Stufe IV
eingeordnet werden müssen.
Die Stufen der Evidenz sollten bei der Suche nach verwertbaren Erkenntnissen von oben nach unten durchlaufen
werden. Die niedrigste Evidenzstufe ist jedoch nicht grundsätzlich gleichbedeutend mit unzutreffendem Inhalt der
Information.
Weitere Informationen, Beispiele für Publikationen der vier Evidenzstufen sowie eine Checkliste zur Bewertung von
Publikationen finden Sie unter http://www.buiatrik.de.