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Im Zusammenhang mit den tierärztlich wahrzunehmenden Nebenwirkungen der Leistungssteigerung im Nutztiersektor ist die Frage aufgeworfen worden, ob das Einkalkulieren leistungsassoziierter Gesundheitsgefährdungen bereits ein ethisches Problem darstellt, beispielsweise für die Tierzüchter; denn bei kritischer Selbsteinschätzung befindet sich „die Züchtung … immer im Abwägungsprozess von wirtschaftlich honorierter Leistungszucht und biologischen sowie gesellschaftlichen Grenzziehungen“ (ELLENDORF 2003). Die Leistungssteigerungen in der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung stellen – wenn auch in unterschiedlicher Weise – eine zusätzliche Beanspruchung des Organismus dar. Unter ungünstigen Voraussetzungen kann die leistungsbedingte, zusätzliche Beanspruchung des Stoffwechsels zu Erkrankungen führen. Diese treten vor allem dann auf, wenn die Fütterung den gesteigerten Leistungen nicht entspricht, oder wenn unzureichende Haltungsbedingungen zu zusätzlichen Belastungen führen. Mit der genetisch bedingten Leistungssteigerung haben sich aber in allen Nutztierpopulationen auch die Ansprüche der Zucht- und Nutztiere an die Umweltgestaltung (Haltung, Fütterung, Management) kontinuierlich gesteigert. Viele negative phänotypische Befunde bei Hochleistungstieren sind offenbar auf eine ihnen nicht gemäße Betreuung zurückzuführen. Es ist beinahe die gesamte landwirtschaftliche Tierhaltung von diesem – erst seit einigen Jahrzehnten zu beobachtenden – progressiven Problem betroffen, insbesondere Hühner, Puten, Schweine und Milchvieh. Es spricht inzwischen einiges dafür, das moralisch integere Ziel von Tierzüchtung und –haltung in einer „Harmonie von Genotyp und Haltungsumwelt“ zu sehen, wobei Harmonie für die durchgängig gelingende, leidensfreie Adaptation des Individuums steht. Das Ziel einer „Harmonie von Genotyp und Haltungsumwelt“ wäre erreicht, wenn das Tierindividuum so gut in sein Haltungssystem passt, dass es ihm im Prinzip durchgängig gelingen könnte sich unter Vermeidung von Schmerzen, Leiden oder Schäden an seine Lebensbedingungen zu adaptieren. Der Gedanke einer notwendigen Harmonie von erblichen Eigenschaften und späteren Lebensbedingungen hat den Weg in das Tierschutzrecht bereits gefunden: Die Richtlinie 98/58/EG über den Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere vom 20.07.1998 schreibt vor: „Tiere dürfen nur zu landwirtschaftlichen Nutzzwecken gehalten werden, wenn aufgrund ihres Genotyps oder Phänotyps berechtigtermaßen davon ausgegangen werden kann, dass die Haltung ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen nicht beeinträchtigt.“ (Nr. 21 des Anhangs). In Deutschland ist es „verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei den Nachkommen … deren Haltung nur unter Bedingungen möglich ist, die bei ihnen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führen“ (Deutsches TierSchG § 11b Abs. 2 Punkt c). Zur Beurteilung des Umstandes, dass in den problematisierten Zuchtprogrammen im Regelfall nicht alle Individuen betroffen sind, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das Auftreten von Leiden oder Schäden festgestellt wird, ist Art. 19 der „Empfehlung für das Halten von Rindern“ vom 21.10.1988 (des Ständigen Ausschusses des Europäischen Übereinkommens zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen) heranzuziehen: „Züchtungen oder Zuchtprogramme, die entweder bei den Eltern oder bei den Nachkommen zu Leiden oder Schäden führen oder bei denen diese Wahrscheinlichkeit gegeben ist, sollten nicht durchgeführt werden.“ Während der theoretische Rahmen also in etwa festgelegt ist, mangelt es derzeit an einer fruchtbaren Diskussion darüber, inwieweit der Status quo in der Landwirtschaft nicht bereits eine Überschreitung der hier festgelegten Grenzen darstellt.