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Aktuell erleben wir eine aufwühlende Zeitenwende im Umgang mit den besonders in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommenen Krankzüchtungen bei Hunden, Katzen und manchen kleinen Heimtieren. Nachdem die Tiermedizin spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor den Folgen systematischen Krankzüchtens gewarnt hat, verstehen wir erst seit wenigen Jahren durch molekulargenetische Forschungen, was genau dazu führte. Zum Glück der Tiere liefern diese Erkenntnisse auch Schlüsselinformationen und -technologien für die Korrekturen der vielfachen Probleme. Damit wäre es züchterisch-technisch (theoretisch!) leicht, unsere geschundenen Gefährten wieder nachhaltig gesünder zu züchten. Doch dabei stoßen wir auf teils massiven Widerstand mancher traditioneller Rassefans, denen ihr tradiertes Rassebild wichtiger ist als die Gesundheit der Tiere. „Zuchtprodukte“ werden als Konsumgüter wie Markenprodukte des täglichen Gebrauchs verstanden und durch fadenscheinige Begründungen schöngeredet. Auf der anderen Seite entwickeln sich starke Trends zu mehr gesundheitsorientierten Alternativzüchtungen. Dabei sind Aufklärung über Hintergründe und mögliche Auswege scheinbar weniger entscheidend als vielmehr psychologische und soziokulturelle Priorisierungen gewohnter Leistungen der Tiere für den Menschen versus ehrlicher Tierschutz. Zur Justierung unseres ethischen Kompasses hilft ein Blick in die Geschichte, erklärt durch Genetik, Molekularpathologie und menschliche Psychologie der Gegenwart.
Historie mit bedenklichen Entwicklungen in der Neuzeit
Nachdem Hunde aus Wölfen wahrscheinlich vor mehr als 30.000 Jahren domestiziert wurden, kennen wir heute aus der Paläoontologie deutliche Größenunterschiede erst seit der Eisenzeit. Der griechische Gelehrte Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) beschrieb bereits sieben verschiedene Hundeformen, die man heute vielleicht als Schläge bezeichnen würde, darunter Jagdhunde, Molosser für den Krieg und, ja, Betthunde. Mit den heutigen Hunderassen hatten diese jedoch nicht viel zu tun. Vorläufer unseres Mopses - jedoch mit deutlich längeren Nasen und Schnauzen - sind aus dem Kaiserreich Chinas vor mehr als 2.000 Jahren überliefert. Der Großteil der Hunde musste sich bis ins neunzehnte Jahrhundert sein Futter und seine Schlafstatt als Nutztier verdienen, wofür sie gesund und robust sein mussten. Ein fundamentaler Wandel des Spektrums vieler Äußerlichkeiten, besonders aber auch der Gesundheit vieler Hunde, wurde - mit starken Parallelen zur Eugenik beim Menschen - mit der Erfindung der Reinrassigkeit im viktorianischen England des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts eingeläutet. Geschlossene Zuchtbücher und Rassestandards gelten heute als Eckpfeiler der Definition, Wertbestimmung und Entwicklung einer Rasse. Heute kennen wir über 356 bei den traditionellen Zuchtverbänden „etablierte“ Hunderassen, die sich in Bezug auf Größen, Formen, Farben und Fellvarianten stärker als die Vertreter aller anderen Arten unterscheiden. Wie war das möglich, und warum blieb die Gesundheit vielfach auf der Strecke?
Nachdem die meiste Zeit angenommen wurde, dass Zucht lediglich die Verstärkung von im Genpool bereits vorhandenen Eigenschaften darstellt, hat sich in den letzten Jahren ein weiterer Faktor als viel entscheidender herausgestellt: In praktisch jeder neuen Generation treten durch Spontanmutationen folgenschwere Veränderungen im Erbgut auf. Diese können auf der einen Seite zu neuen, vermeintlich hübschen oder extravaganten Äußerlichkeiten beitragen, etwa extrem kurzen Köpfen, bunten Fellfarben oder blauen Augen. Durch gezielte Inzucht lassen sich daraus leicht neue Linien und ganze Rassen züchten. Der viel größere Anteil an Mutationen führt jedoch zu Ausfällen wichtiger Körperfunktionen, etwa der Krebsabwehr, Immunität oder von Sinnesleistungen. Gerade als Zuchtfolgen sehen wir auch Kombinationen daraus, also eine neue extravagante Äußerlichkeit, die auf einem Mechanismus beruht, der gleichzeitig zu bestimmten Krankheitsneigungen oder Sinnesstörungen führt. Dackellähme, taube Dalmatiner und irische Wolfshunde mit Neigung zu Knochenkrebs sind nur wenige Beispiele von vielen.
Massive Inzucht in vielen Rassen hat zusätzlich dazu geführt, dass zufällige Spontanmutationen - auch ohne Zusammenhang mit dem Zuchtziel - und die daraus resultierenden, oft rassetypischen Erbkrankheiten in vielen Rassen unnatürlich weit verbreitet wurden. Die bei Hunden seit rund 150 Jahren gelebte Praxis der reinen Rassezucht hat sich in Anbetracht dieser Erkenntnisse als fataler Irrweg für die Gesundheit herausgestellt. Die natürliche Mutationsrate bei Säugetieren, die in der Natur als Treiber der Evolution Variation und Selektion erst ermöglicht, hat sich in der Tierzucht als Segen und Fluch zugleich erwiesen. Zucht ist immer auch ein Spielen mit Mutanten und Missbildungen. Da Spontanmutationen mit daraus resultierenden Erbleiden ständig neu hinzukommen und - im Gegensatz zu Wildtieren - in menschlicher Obhut teils gepflegt, tiermedizinisch betreut und weiter vermehrt werden, nimmt ihr Ausmaß in einer zunehmenden Zahl von Rassen bedrohliche Ausmaße an.
In der Rückschau lassen sich damit historische und dafür heute oft als Kulturgut verherrlichte Rassebilder und Kuriositäten biologisch erklären. Dazu zählen die seit mehr als 3.000 Jahren bei den Azteken bekannten Nackthunde - Xoloitzcuintles - sowie die im Mittelalter weit verbreiteten Enten, Gänse und Hühner mit Federhauben. Entscheidend für deren Zucht waren nicht so sehr ihr praktischer Nutzen als vielmehr ihre jeweiligen soziokulturellen Bedeutungen. In den Augen der Azteken waren ihre haarlosen Hunde vom Gott Xolotl geschaffen, um die Lebenden zu beschützen und die Seelen der Toten durch die Gefahren der Unterwelt zu führen. Dagegen galt Ziergeflügel mit pittoresken Federhauben bei den Aristokraten des mittelalterlichen Europas als Symbol eines hohen sozialen Status. Es kommt also auf die Interpretation an, und hier waren Menschen - wie anderswo auch - ungemein erfinderisch. Das mehr oder weniger verborgene Leid dieser Tiere, das als untrennbare Nebenwirkung dieser durch Inzucht systematisch verbreiteten Fehlbildungssyndrome auftrat, war den damaligen Protagonisten entweder nicht bekannt oder egal. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.
In ähnlicher Manier lassen sich vermeintlich hübsche oder extravagante Defektzuchten durch praktisch alle Bereiche der Haus- und Heimtierzucht verfolgen. Egal ob bei Kaninchen oder Meerschweinchen, bei Ziertauben, Aquarienfischen oder Leopardgeckos, überall finden wir von ihren Fans als besonders wertvoll empfundene Monster, Mumien und Mutanten (Zitat Prof. Wilhelm Wegner, TiHo Hannover), was für die betroffenen Tiere ein weites Spektrum an Schmerzen, Leiden oder Schäden bedeuten kann. Doch nicht nur Äußerlichkeiten sind betroffen. So können genetische Defekte auch zu einem weiten Spektrum an für die Tiere belastenden Bewegungs- und Verhaltensanomalien führen, etwa bei Tanzmäusen oder bestimmten Schausporttauben, den Purzlern, Doppeltpurzlern, Rückwärtspurzlern, Rollertauben und Todesrollern.
Auffallende Ähnlichkeiten mit Fehlbildungssyndromen bei Menschen
Von besonderer moralischer Brisanz ist die relativ neue Erkenntnis, dass nicht wenige rasseprägende Merkmale bei Hunden in dieser Form auch bei Menschen - zum Glück selten - als spontane und höchst unerwünschte Fehlbildungssyndrome auftreten. Was wir bei unseren eigenen Kindern und Enkeln als bedauernswertes Schicksal mit oft lebenslangen Belastungen beklagen würden, haben wir manchen Hunderassen bewusst und gezielt systematisch angezüchtet und durch Inzucht extrem verbreitet. Dabei sind die gesundheitlichen Folgen oft ähnlich bis dieselben. Zu den markantesten Beispielen zählen Dackel mit rassetypischen Knorpelstoffwechselstörungen (Mensch: Achondroplasie), Bulldoggen mit markanten Köpfen und Korkenzieherruten (Mensch: Robinow-Syndrom) sowie die aztekischen Nackthunde - Xoloitzcuintles - mit Gebissmissbildungen (Mensch: ektodermale Dysplasien). So interessant diese Parallelen aus Sicht der molekularen Pathologie sind, so verstörend und abstoßend wirken sie bei ethischer Betrachtung.
Dabei ist die ethische Rechtfertigung jeglichen Tierleids nur durch einen „vernünftigen Grund“ als zentrales Paradigma in unserem heutigen Tierschutzgesetz niedergelegt (§ 1 TSchG). Doch ein vernünftiger Grund kann für manche offenbar weit interpretiert werden. Das deutsche TSchG verbietet im § 11b, dem so genannten Qualzuchtparagraphen, seit 1986 die Zucht von erwartbar krankheitsbelasteten Tieren, in verschärfter Formulierung seit 2013. Das Gesetz wird jedoch bis heute kaum umgesetzt. Zu den Gründen zählen eine zu schwammige Definition der relevanten Sachverhalte im Gesetz sowie massive Widerstände mancher, durch Eigeninteressen getriebene Traditionszuchtverbände. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland viele Hunderttausende Hunde durch die Auslaufgebiete und Wohnzimmer laufen, die es nicht geben dürfte, wenn das Tierschutzgesetz adäquat umgesetzt worden wäre.
Aktuelle Spannungsfelder: Traditionelle Rassebilder versus Tiergesundheit
Gerade hier scheiden sich heute manche Geister von Traditionszüchtern und
-rassefans auf der einen Seite und aufgeklärten Tierschützern auf der anderen. Der Diskurs zwischen Priorisierung eines tradierten Rassebildes gegenüber zeitgemäßem und wissenschaftsbasiertem Tierschutz hat in unserer Gesellschaft gerade erst begonnen. Die Abwägung zwischen Vorteilen für den Menschen und den dafür durch die Tiere zu erbringenden Opfern kommt besonders zum Tragen in Entscheidungen darüber, ob, wie und für welchen Preis die vielen Defektzuchten wieder zu korrigieren sind.
So kennen wir heute - basierend auf wissenschaftlicher Evidenz - ein weites Spektrum an Möglichkeiten, die beiden Kernprobleme, dysfunktionale Anatomien und Inzuchtfolgen, züchterisch wieder zu korrigieren. Dazu müssen jedoch manche bislang als sakrosankt geltende Prinzipien in der Zucht zumindest ein Stück weit aufgegeben werden, etwa der Glaube an den Mehrwert geschlossener Zuchtbücher und blaublütiger Reinrassigkeit. Sporadische bis zu systematische Kreuzungszuchten, also das Einkreuzen anderer Rassen oder gar von Mischlingen, ist für viele Rassen unabdingbar, um gesunde und funktionsfähige Anatomien wieder zu importieren, wo sie nicht mehr im Genpool der Rasse vorhanden sind. Daneben müssen tradierte - vermeintlich „offizielle“ - Rassestandards der privaten (!) Rasseclubs wieder derart korrigiert werden, dass darin keine eindeutig krankmachenden Merkmale mehr gefordert sind. Keine Rasse muss abgeschafft werden, jedoch müssen einige Rassen anders aussehen dürfen, um wieder gesünder gezüchtet werden zu können.
Anders als noch vor wenigen Jahren sind fehlende wissenschaftliche Erkenntnisse oder mangelnde züchterische Techniken heute nicht mehr das Problem. Vielmehr entscheiden die soziokulturelle Bewertung tradierter Rassebilder und die von vielen empfundenen Leistungen der Tiere für uns Menschen - als vernünftiger Grund - darüber, welche Opfer wir auch in Zukunft von ihnen abverlangen werden.
Dabei scheinen auf anderen Gebieten längst etablierte psychologische Faktoren starken Einfluss auf individuelles Verhalten zu nehmen. Diese werden bei der Interaktion und Kommunikation mit traditionellen Rassefans noch zu wenig berücksichtigt. Dazu zählen etwa kognitive Dissonanzen - Wahrnehmungsverzerrungen -, die infolge persönlicher Bindung, Prägung, Bias, wirtschaftlichem Interesse oder anderen Motiven zu psychologisch erklärbaren Fehlurteilen führen oder Aspekte wie Verlustaversion oder Konservativismus. Am Ende geht es um uns Menschen und warum wir wie mit Tieren umgehen. Und dieser Umgang wandelt sich gerade, hoffentlich.