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Fachbereich Veterinärmedizin


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    Publikationsdatenbank

    Auswege aus zuchtbedingten Gesundheitsproblemen:
    Was kann die Wissenschaft bieten? (2023)

    Art
    Vortrag
    Autor
    Gruber, Achim (WE 12)
    Forschungsprojekt
    Klinische Tiermedizin und Tierschutz
    Kongress
    37. Jahrestagung der Vereinigung Österreichischer Kleintiermediziner (VÖK)
    Salzburg, 22. – 24.09.2023
    Quelle
    Wissenschaftlicher Bericht über die 37. Jahrestagung der Vereinigung Österreichischer Kleintiermediziner (VÖK) : Hauptkongress Salzburg 23. - 24. September 2023 — VÖK Vereinigung Österreichischer Kleintiermediziner (Hrsg.)
    [Fischlham]: VÖK - Vereinigung Österreichischer Kleintiermediziner, 2023 — S. 78–79
    ISBN: 978-3-200-09332-4
    Verweise
    URL (Volltext): https://www.voek.at/fileadmin/user_upload/JT23/Wissenschaftlicher-Bericht-JT23.pdf
    Kontakt
    Institut für Tierpathologie

    Robert-von-Ostertag-Str. 15
    14163 Berlin
    +49 30 838 62450
    pathologie@vetmed.fu-berlin.de

    Abstract / Zusammenfassung

    Nach rund 150 Jahren reinrassiger Zucht mit geschlossenen Zuchtbüchern und vielen menschengemachten Zuchtzielen ist es Zeit für einen Rückblick: Was hat uns traditionelle Reinrassigkeit gebracht, außer einem erstaunlichen Spektrum von über 350 beliebten bis extravaganten Hunde- und über 70 Katzenrassen?

    Wir beobachten seit vielen Jahrzehnten zwei separate, durch systematische Zucht entstandene Formenkreise von Krankheiten, Leiden und Funktionsstörungen. Zum einen kennen wir über 80 Gesundheitsprobleme, die direkt als «Nebenwirkungen» von gewünschten Zuchtzielen entstanden sind, etwa extravaganten Anatomien, Größen oder Fellfarben.1-3 Dabei bilden Mops und Bulldogge nur eine kleine Spitze eines sehr viel größeren Eisberges. Zum anderen leiden viele Rassen unter folgenschweren genetischen Verarmungen durch Inzucht, Gründereffekte und genetische Flaschenhälse. Mit zwischen 500 und 800 heute bekannten Erbkrankheiten, die sich zumeist unabhängig von und zusätzlich zu krankmachenden Zuchtzielen anhäuften, sind Hunde stärker als alle anderen gezüchteten Haustiere betroffen.4-6 Die vielfach dramatische genetische Verarmung hat auch dazu geführt, dass viele Rassen nicht mehr einfach «gesundgezüchtet» werden können, da ihnen dafür die «gesunden Gene» fehlen. Zunehmend viele Rassen gelten bei manchen als nicht mehr zu retten, wenn wir mit unserer traditionellen Zucht reiner Rassen so weitermachen.

    Diverse politische, behördliche und juristische Aktivitäten wurden mit variablem Erfolg initiiert, um das Zucht-, Erwerbs- und Ausstellungswesen gesetzlich zu reglementieren. Was aber kann die Wissenschaft beitragen? Welche Auswege stehen überhaupt bereit, die aus den beiden Problemfeldern noch herausführen können? Dieser Vortrag beleuchtet eine breite Palette an Möglichkeiten:

    a) Die genetische Diagnostik mit einem weiten Spektrum an Einzelgentests, Testkombinationen, komplexen Chip-Analysen bis zur kompletten Erbgutsequenzierung wird in Zukunft weiter stark an Bedeutung gewinnen.6 In der Zucht zunehmend vieler Rassen werden systematische Gentests immer unverzichtbarer. Die beiden Kernprobleme jedoch werden sie nicht lösen können.
    b) Die verschiedenen Formen von Kreuzungszuchten (Veredelungskreuzungen, Kombinationskreuzungen, Gebrauchskreuzungen und andere) werden für den Erhalt und das «Gesundzüchten» nicht weniger Rassen unverzichtbar sein. Kreuzungszuchten können beide Problemfelder sehr effektiv bereinigen, wie etwa an Retromöpsen und Prokromfohrländern eindrücklich gezeigt, möglichst in Kombination mit systematischen Gentests. Dazu zählen auch die immer populärer werdenden «Designerdogs», also Labradoodle, Maltipoo & Co. Bei manchen von ihnen drohen aber aktuelle Initiativen, die Kernsünden traditioneller Rassen zu wiederholen. Das Einkreuzen bestimmter Straßen- oder Wildhunde könnte zu einer wesentlichen gengesundheitlichen Bereicherung führen. Bei allen Formen der Kreuzungszuchten müssen wir jedoch unseren tradierten Anspruch an «Erbhygiene» und «Blaublütigkeit» überdenken. Im Fokus der Bemühungen muss auch eine gründliche Bereinigung so mancher heute noch international geltender Rassestandards stehen.
    c) Rasante Fortschritte in der Gentechnik werden punktuell die zielgerichtete Korrektur des Erbgutes erlauben, etwa durch Genscheren wie CRISPR/Cas. Beim Hund konnten dadurch bereits defekte Gene korrigiert werden, die zu einer schweren Muskelerkrankung führen oder zur Hüftgelenksdysplasie beitragen. Ethische Bedenken werden geringer sein als beim Einsatz der Technik am Menschen.
    d) Das Klonen von Hunden und Katzen ist in anderen Teilen der Welt bereits in großem Stil gelebte Realität. Besonders bei Diensthunden mit hohen Ansprüchen an Talente und Gengesundheit könnte es auch bei uns eine wertvolle Alternative zur Reinzucht darstellen. Darüber hinaus ist das Klonen (noch) scheinbar eine zwingende Voraussetzung für gentechnische Eingriffe mit Genscheren beim Hund.

    Diese und weitere Möglichkeiten bieten mehr als genügend Auswege, betroffene Hunde- und auch manche Katzenrassen nachhaltig von vielen ihrer Gesundheitsprobleme zu befreien. Es wird jedoch nicht die eine Standard-Lösung für alle Probleme geben. Vielmehr sind Augenmaß und wissenschaftlicher Sachverstand bei der Auswahl gefragt, aber auch der konsequente Mut, sich von manchen Dogmen der traditionellen Zucht zu befreien.

    Literatur
    1. Gruber A: Geschundene Gefährten: Über Irrwege in der Rassezucht und unsere Verantwortung für Hund und Katze. Droemer Verlag, 2023.
    2. Gough A, Thomas A, O´Neill DO: Breed Predispositions to Disease in Dogs and Cats. 3. Ausgabe, John Wiley & Sons Ltd, 2018.
    3. Asher L, Diesel G, Summers JF, et al: et al.: Inherited defects in pedigree dogs. Part 1: Disorders related to breed standards. Vet J 182:402–112009, 2009.
    4. Farrell LL, Schoenebeck JJ, Wiener P, et al: The challenges of pedigree dog health: Approaches to combating inherited disease. Canine Genetics and Epidemiology 2:1-14, 2015.
    5. Bannasch D, Famula T, Donner J, et al: The effect of inbreeding, body size and morphology on health in dog breeds. Canine Med Genet 8:12, 2021.
    6. Leeb T, Bannasch D, Schoenebeck JJ: Identification of Genetic Risk Factors for Monogenic and Complex Canine Diseases. Annu Rev Anim Biosci 11: 9.1-9.23, 2023.
    7. Binder R, Winkelmayer R, Chvala-Mannsberger S: Das Verbot der Qualzucht aus tierschutzrechtlicher, kynologisch-veterinärmedizinischer und ethischer Perspektive. Tier- und Artenschutz in Recht und Praxis 5:155 – 210, 2021.