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Ziel dieser Studie war, medizinische Daten von freilebenden H. albicilla mit diagnostizierter Bleiintoxikation auszuwerten. Hierzu wurden klinische, bildgebende, blutchemische- und hämatologische Parameter sowie Blut- und Organbleikonzentrationen untersucht. Es wurde überprüft, ob das Vorhandensein verschiedener klinischer, bildgebender und labordiagnostischer Befunde Einfluss auf die Prognose einer Bleiintoxikation bei freilebenden H. albicilla hat. Über den Zeitraum von August 1998 bis Januar 2020 wurden Daten von 238 freilebenden, verletzt aufgefundenen H. albicilla, die in der Abteilung für Heim-, Zoo- und Wildtiere der Klinik für kleine Haustiere der Freien Universität Berlin vorgestellt wurden, ausgewertet. Als Einschlusskriterium für eine Bleiintoxikation wurde eine Blutbleikonzentration ab 0,4 ppm einhergehend mit typischen klinischen Symptomen gewählt. 31 % der Seeadler (73/238) wiesen eine Bleiintoxikation als alleinigen Befund auf und wurden in die Studie einbezogen. Die Seeadler stammten aus Brandenburg (44/73), Mecklenburg-Vorpommern (14/73), Sachsen (6/73), Schleswig-Holstein (4/73), Sachsen-Anhalt (3/73) und Berlin (2/73). Ein Großteil der Seeadler wurde in den Herbst- und Wintermonaten (Oktober bis März) aufgefunden (60/73, 82 %). Die häufigste Altersgruppe waren adulte Seeadler (50/73, 69 %), gefolgt von immaturen (17/73, 23 %) und juvenilen Vögeln (4/73, 5 %) sowie Nestlingen (2/73, 3 %). Weibliche Seeadler (40/73, 55 %) wurden häufiger vorgestellt als männliche (30/73, 41 %). Typische klinische Untersuchungsbefunde, die bei 72 der 73 Seeadler erhoben werden konnten, waren Apathie (72/72, 100 %), Dyspnoe (50/72, 68 %), ein schlechter Ernährungszustand (44/72, 60 %), Biliverdinurie (35/72, 48 %), Erbrechen (23/72, 32 %), Kropfstase (21/72, 29 %) und neurologische Ausfallserscheinungen (19/72, 26 %). Bei der röntgenologischen Untersuchung konnten bei 44 % der Vögel metalldichte Fragmente im Verdauungstrakt nachgewiesen werden (32/73). Die Bleifragmente befanden sich am häufigsten im Magen, gefolgt von Darm und Kropf. Eine Hämolyse der Erythrozyten wurde bei 62 % (45/73) der Seeadler nachgewiesen. Die mediane Blutbleikonzentration lag bei 3,0 ppm (Min=0,4 ppm; Max=21,7 ppm). Signifikant höhere Blutbleikonzentrationen konnten bei Seeadlern mit Biliverdinurie (rs=0,44; p=0,002), Dyspnoe (rs=0,38; p=0,001) und metalldichten Fragmenten im Verdauungstrakt (rs=0,3; p=0,009) festgestellt werden. Zudem wiesen adulte Seeadler signifikant häufiger höhere Blutbleikonzentrationen auf als andere Altersgruppen (rs=0,25; p=0,03). Die hämatologische Untersuchung ergab bei 26 % der Seeadler (18/73) eine Anämie (Hämatokrit unter 29 %). Bei den blutchemischen Parametern konnten die stärksten Abweichungen von den Referenzintervallen bei der Aspartat-Aminotransferase- und der Kreatinkinaseaktivität sowie der Glukosekonzentration beobachtet werden. Eine therapeutische Endoskopie erfolgte bei 59 % (16/27) der Seeadler mit metalldichten Fragmenten im Magen. In 69 % (11/16) der Fälle wurden die Fragmente zwar erfolgreich entfernt, aber trotz Endoskopie verstarben 13 von 16 Seeadlern. Die Blutbleikonzentration konnte mit Ca-Na2-EDTA 50 mg/kg KGW i.m. BID und 100 mg/kg KGW i.m. BID bzw. Ditripentat 50 mg/kg KGW i.m. SID intramuskulär kontinuierlich gesenkt werden. Insgesamt verstarben 79 % der Seeadler (31 weibliche, 25 männliche und zwei unbekannten Geschlechts) an den Folgen der Bleiintoxikation. Faktoren, die die Prognose signifikant beeinflussten, waren das Vorhandensein einer Dyspnoe (r=0,63; p=0,001), das Vorhandensein einer Biliverdinurie (r=0,43; p=0,005), die Höhe der Blutbleikonzentration (rs=0,36; p=0,002) sowie eine Hämolyse (r=0,31; p=0,01). Eine Überlebensbaumanalyse ergab, dass Dyspnoe und Anämie die einflussreichsten Faktoren für die Beurteilung der Prognose bei Seeadlern mit Bleiintoxikationen waren. Seeadler mit einer Dyspnoe wiesen eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 6 % auf, Seeadler mit einer Anämie von 24 %. Die Leberbleikonzentrationen der Seeadler mit Bleiintoxikation waren höher als die Nierenbleikonzentrationen (rs=0,8; p=0,001). 74 % (34/46) der verstorbenen Tiere wiesen deutlich erhöhte Leberbleikonzentrationen und 24 % (11/46) deutlich erhöhte Nierenbleikonzentrationen auf (>8 ppm). Bei 86 % der Seeadler, die mit einer Blutbleikonzentrationen unter 1 ppm verstarben (6/9), konnten Leber- und Nierenbleikonzentrationen von über 1 ppm nachgewiesen werden. Dies ist die erste Studie, die den Verlauf einer Bleiintoxikation bei einer größeren Anzahl von Seeadlern auswertete. Die Ergebnisse dieser Arbeit können helfen, anhand klinischer, bildgebender und labordiagnostischer Befunde, die Prognose einer Bleiintoxikation bei Seeadlern besser zu beurteilen.