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Die dsp-Agrosoft GmbH vertreibt die Herdenmanagementsoftware Herde für Milchviehbetriebe. Für die Software ist das Modul Entgangener Ertrag erhältlich. Laut Unternehmen ist das Ziel des Moduls die „Schätzung des Einflusses von Erkrankungen und Abgängen auf die Wirtschaftlichkeit des Betriebes“ (dsp-Agrosoft GmbH, 2018). Das Grundprinzip ist dabei wie folgt: Der Nutzer wählt eine Erkrankung aus, deren wirtschaftliche Auswirkungen er dargestellt haben möchte. Das Modul stellt daraufhin zwei Tiergruppen nebeneinander dar: Tiere mit der in Frage stehenden Diagnose und Tiere ohne diese Diagnose. Die beiden Gruppen werden mit Blick auf die in der Vergangenheit realisierte Milchleistung, Reproduktionsparameter sowie Bestandsergänzungs- und Haltungskosten miteinander verglichen. Der mit der Diagnose assoziierte „Entgangene Ertrag“, definiert als die Differenz des ökonomischen Ergebnisses der beiden Tiergruppen, wird ausgegeben. Die Analyse der Auswirkungen von Erkrankungen erfolgt damit spezifisch für den betrachteten Betrieb. Hier liegt ein entscheidender Unterschied zu der Strategie, sich bei der Einschätzung der Auswirkungen von Erkrankungen auf Angaben des einschlägigen Schrifttums zu verlassen. Einen Eindruck von der Benutzeroberfläche vermitteln zwei Screenshots in Abschnitt 3.2 der vorliegenden Arbeit. Neben den Diagnosen lassen sich der Quotient aus Milchfett- und Milchproteingehalt (Screening bzgl. ketotischem Status) sowie die Zellzahl (Indikator für Eutergesundheit) hinsichtlich ihrer ökonomischen Bedeutung auswerten. Das Auswertungsprinzip ist dabei analog zu dem oben skizzierten Vorgehen für die Diagnosen. Der Einfachheit halber ist daher im Folgenden nur von „Erkrankungen“ und „Diagnosen“ die Rede. Außerdem lassen sich anstelle eines „Entgangenen Ertrages“ die Auswirkungen auf das „Income over feedcost“ darstellen. Diesbezüglich sei verwiesen auf die ausführlichen Erläuterungen in Abschnitt 4.1.5. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die kritische Diskussion des beschriebenen Moduls. Sämtliche entsprechende Ausführungen beziehen sich hierbei auf die in Abschnitt 3.1 beschriebene Version des Softwarepakets. Die zu beantwortende Forschungsfrage ist dabei zum einen, ob das Modul in seiner derzeitigen Form die Auswirkung einer Erkrankung auf das ökonomische Betriebsergebnis ausreichend präzise wiedergibt, um eine wertvolle Entscheidungshilfe darzustellen, bei der Planung von ökonomisch fundierten Investitionsstrategien im Bereich Bekämpfung und Prophylaxe von Erkrankungen. Zum anderen gilt es, nicht nur etwaige Kritikpunkte zu identifizieren, sondern auch zu erläutern, welche Änderungen gegebenenfalls vorzunehmen sind, um das Modul mit Blick auf das oben genannte Anwendungsszenario methodisch weiterzuentwickeln. Das mathematische Vorgehen des Moduls wird detailliert erläutert. Außerdem werden die Ergebnisse der Anwendung des Moduls auf reale Daten in Form von Herde-Backup-Dateien zweier deutscher milcherzeugender Betriebe erörtert. Es folgt die ausführliche Diskussion des Moduls, auch unter Bezugnahme auf das einschlägige Schrifttum zu ökonomischen Auswirkungen von Erkrankungen auf die betrachteten Parameter. Sowohl grundlegende konzeptionelle Probleme als auch „kleinere handwerkliche Fehler“ in der Programmierung werden identifiziert. Entsprechende Verbesserungsvorschläge werden unterbreitet. Bei der Konzeption einer ökonomischen Entscheidungshilfe ist grundsätzlich eine Abwägung zu treffen, zwischen methodischer Präzision einerseits und Praktikabilität sowie Nutzerfreundlichkeit andererseits. Vor diesem Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass sich die einzelnen formulierten Kritikpunkte unterscheiden, hinsichtlich ihrer Relevanz für die Gesamtbeurteilung des Moduls in seiner derzeitigen Form. Als eine Priorität bei der zukünftigen Weiterentwicklung wird die Verbesserung der Darstellung der Auswirkung von Erkrankungen auf die Milchleistung identifiziert. Aufgrund der besonderen Bedeutung seien hier das Grundproblem sowie ein möglicher Lösungsansatz anhand des Beispiels der Diagnose Sohlengeschwür kurz dargelegt: Geht man davon aus, dass genetisch bedingt besonders hochleistende Tiere aufgrund der besonders hohen Lipomobilisation während der Laktation ein besonders dünnes Sohlenkissen und damit eine besondere Prädisposition für Sohlengeschwüre aufweisen (siehe Abschnitt 5.1.1), so stellt die Diagnose Sohlengeschwür ein indirektes Selektionskriterium für Tiere mit besonders hoher potentieller Milchleistung dar. Es verwundert dann auch nicht, dass – zumindest im hier betrachteten Zeitraum – diese Diagnose in beiden im Rahmen der vorliegenden Arbeit analysierten Betrieben zu großen Teilen mit einer höheren Milchleistung assoziiert ist. Dies ist aller Wahrscheinlichkeit nach dadurch zu erklären, dass die Erkrankung die Milchleistung der betroffenen Tiere zwar senkt (schmerzhaftes Stehen, daher weniger Futteraufnahme usw.), aber nur so weit, dass die Durchschnittsleistung dieser Tiere immer noch über derjenigen der Tiere ohne Sohlengeschwür liegt. Die tatsächliche Minderleistung des erkrankten Tieres im Sinne einer negativen Abweichung von seiner potentiellen Leistung – und damit der Effekt der Erkrankung – ist hieraus nicht ableitbar. Ein möglicher Ansatz zur Verbesserung der Darstellung ist die Einteilung der betrachteten Tiere in Milchleistungsgruppen auf der Grundlage ihrer potentiellen Leistung. Dann könnten Tiere mit/ohne Diagnose innerhalb derselben Leistungsgruppe gegenübergestellt werden. Als Hinweis auf die potentielle Leistung eines Tieres könnte seine Leistung in vorangegangenen Laktationen dienen. Andere mögliche Ansätze werden ebenfalls skizziert (siehe Abschnitt 5.1.1). Die besondere Bedeutung der Darstellung des Zusammenhangs zwischen Erkrankung und Milchleistung ergibt sich zum einen aus dem großen Anteil, den die Milchleistung am berechneten Entgangenen Ertrag hat. Hinzu kommt die Beobachtung, dass – um bei obigem Beispiel zu bleiben – die Diagnose Sohlengeschwür in beiden untersuchten Betrieben größtenteils mit einer deutlich geringeren Abgangsrate assoziiert ist. Es ist wahrscheinlich, dass es sich hierbei nicht um einen direkten (positiven) Effekt der Erkrankung handelt, sondern um einen protektiven Effekt der hohen Milchleistung, der Landwirt also geneigt ist, diese Tiere eher im Bestand zu belassen. Auch hier könnte ein Vergleich von Tieren innerhalb derselben Milchleistungsgruppe die Darstellung verbessern. Noch ein weiterer Punkt kommt hinzu: In beiden untersuchten Betrieben ist die Diagnose Sohlengeschwür zu einem großen Teil assoziiert mit einer geringeren Reproduktionsleistung – insbesondere in Form einer verlängerten Zwischenkalbezeit. Hier wäre es denkbar, dass es sich zumindest zum Teil um einen mehr oder weniger direkten Effekt der Erkrankung handelt. Andererseits ist nicht ausgeschlossen, dass die hohe Milchleistung per se mit einer geringen Reproduktionsleistung assoziiert ist. Ob ein solcher Zusammenhang besteht, wird in der Literatur kontrovers diskutiert (siehe Abschnitt 5.1.1). Gegebenenfalls könnte auch hier die Darstellung verbessert werden, durch Vergleich von Tieren mit/ohne Diagnose innerhalb derselben Milchleistungsgruppe. Wichtig ist, dass die obige Argumentation nicht nur für die Erkrankung Sohlengeschwür gilt, sondern für alle Erkrankungen, deren Inzidenz mit der Höhe der potentiellen Milchleistung zusammenhängt.
Weiteres Verbesserungspotential wurde in den folgenden Bereichen identifiziert. Die einzelnen Aspekte werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausführlich erörtert und seien hier nur kurz aufgezählt: • Weitere Aspekte der Bildung der Vergleichsgruppen mit/ohne Diagnose (neben der Einteilung in Milchleistungsgruppen) werden diskutiert, insbesondere Verzerrungen der Ergebnisse durch Nichtberücksichtigung anderer als der jeweils ausgewerteten Diagnose. • Berechnung der Bestandsergänzungskosten: Bisher werden hier nur Zahlungsströme betrachtet, die sich unmittelbar aus dem Abgang eines Tieres und dem Ersatz durch ein neues ergeben. Eine sich aus der nunmehr veränderten Herdenstruktur ergebende Änderung der für die Zukunft zu erwartenden Ein- und Auszahlungen (Kapitalwertbetrachtung) wird bisher nicht berücksichtigt. • Die Höhe der veranschlagten täglichen Haltungskosten bleibt bisher über die gesamte Dauer der Laktation gleich. Über die Möglichkeit einer – zumindest groben – betriebsspezifischen Differenzierung nach Laktationsabschnitt ist nachzudenken. • Die Kalkulation der ökonomischen Auswirkung von Erkrankungen erfolgt bisher rein retrospektiv. Mögliche Ansätze zur Berücksichtigung auch zukünftiger Auswirkungen werden skizziert. • Assoziationen zwischen Erkrankungen und den beiden Reproduktionsparametern (Zwischenkalbezeit und Anzahl verwendeter Spermaportionen) fließen grundsätzlich in die Berechnung des Entgangenen Ertrages ein, unabhängig davon, ob Erkrankungen vor oder nach Beginn der Trächtigkeit auftreten. Diese Darstellung ist zu überdenken. Außerdem werden die Spermakosten durch Veranschlagung von Kosten für de facto nicht besamte Tiere systematisch übertrieben. Beide Punkte lassen sich durch entsprechende Änderungen der Programmierung ohne Weiteres beheben. • Bei derzeitiger Definition der Milchmenge wird nicht berücksichtigt, ob es sich um tatsächlich vermarktbare Milch handelt. So geht auch Hemmstoffmilch unterschiedslos in die Berechnung der Milchmenge mit ein. Eine Fokussierung der Darstellung auf tatsächlich vermarktbare Milch wäre vorzuziehen. • Verschiedene Kostenarten bleiben im Kalkül des Moduls bisher unberücksichtigt. Mit Blick auf eine Abwägung zwischen methodischem Aufwand und Bedeutung für das Gesamtergebnis scheint insbesondere die Aufnahme von Behandlungskosten prüfenswert. • Auch bei fehlenden Fällen der auszuwertenden Diagnose wird ein Entgangener Ertrag ausgegeben. Diese Darstellung ist zu überdenken. • Bei Auswertung nach Quotient aus Milchfett- und Milchproteingehalt (Screening bzgl. ketotischem Status) wird als Kriterium > 1,5 verwendet. Das Ergebnis einer aktuellen klinischen Studie legt nahe, dass ein niedrigerer Grenzwert vorzuziehen sein könnte. Außerdem besteht Potential für Missverständnisse hinsichtlich der Wahl des Beobachtungszeitraums. • Einige kleinere darstellerische Fehler bzw. Potential für Missverständnisse in der Benutzeroberfläche werden erörtert. • Neben der Berechnung eines Entgangenen Ertrages wäre auch die Angabe von betriebsspezifischen Grenzerträgen von Bekämpfungs- und Prophylaxemaßnahmen bzgl. einer bestimmten Erkrankung von Vorteil. Dies würde eine zusätzliche Entscheidungshilfe für den Nutzer bedeuten.
Im Rahmen einer iterativen Weiterentwicklung des Moduls sollte in Zukunft eine Einschätzung der jeweiligen praktischen Relevanz der einzelnen Punkte für die Funktionalität des Moduls erfolgen. Hierzu kann ein Vergleich der durch die jeweilige Weiterentwicklungsstufe berechneten Ergebnisse mit Literaturergebnissen beitragen. Der in der vorliegenden Arbeit vorgestellte aktuelle Überblick zum einschlägigen Schrifttum kann hierzu herangezogen werden. Mit Blick auf das eingangs formulierte Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit seien die gezogenen Schlussfolgerungen wie folgt zusammengefasst: Bei Verwendung des Moduls als Entscheidungshilfe bei der Planung ökonomisch fundierter Investitionsstrategien im Bereich Bekämpfung und Prophylaxe von Erkrankungen bedarf der ausgegebene Entgangene Ertrag der umsichtigen Interpretation durch den Nutzer. Es lässt sich keine allgemeingültige Aussage treffen, hinsichtlich der Genauigkeit der Darstellung der Auswirkung einer Erkrankung auf das ökonomische Betriebsergebnis. Die Präzision der Darstellung hängt vielmehr entscheidend davon ab, ob die Inzidenz der jeweils zur Analyse ausgewählten Erkrankung mit der potentiellen Milchleistung in Zusammenhang steht. Für die Gruppe von Erkrankungen, bei denen ein solcher Zusammenhang besteht, ist in besonderem Maße davon auszugehen, dass das Modul zwar die Assoziation zwischen Erkrankung und durchschnittlicher Höhe der Milchleistung darstellt, nicht jedoch die tatsächliche Auswirkung der Erkrankung. Speziell mit Blick auf die genannte Gruppe von Erkrankungen ergibt sich hieraus eine wesentliche Einschränkung der Verwendbarkeit der Modulergebnisse als direkte Entscheidungshilfe im Rahmen des oben genannten Anwendungsszenarios. Wie weiter oben dargelegt, resultiert diese Feststellung zum einen aus dem beobachteten allgemein großen Beitrag der Milchleistung zum berechneten Entgangenen Ertrag und zum anderen aus der mutmaßlichen verzerrenden Wirkung auf die Darstellung hinsichtlich anderer Leistungsparameter. Nähere Erläuterungen hierzu sowie die Beschreibung denkbarer Ansätze zu einer entsprechenden methodischen Weiterentwicklung des Moduls finden sich in Abschnitt 5.1. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurde eine Reihe weiterer grundlegender konzeptioneller Einschränkungen des Moduls sowie „kleinerer handwerklicher Fehler“ identifiziert, welche allgemein, das heißt unabhängig von konkreten Eigenschaften der jeweils zu analysierenden Erkrankung, Berücksichtigung verdienen. Vorschläge für eine entsprechende Weiterentwicklung wurden auch hier unterbreitet. Die Frage nach der Relevanz der einzelnen Punkte für die Funktionalität des Moduls lässt sich nicht objektiv beantworten. Die Antwort liegt vielmehr im Auge des Betrachters und wird letztlich davon abhängen, welcher Anspruch an das Modul gestellt wird. Die hierbei zu treffende Abwägung zwischen methodischer Genauigkeit einerseits und Praktikabilität sowie Nutzerfreundlichkeit andererseits wurde in Abschnitt 5.1 dargelegt. Entscheidend ist, dass der Nutzer sich der Aussagekraft der Modulergebnisse – und deren Grenzen – bewusst, und damit in der Lage ist, eine informierte Entscheidung darüber zu treffen, inwieweit die Modulergebnisse mit Blick auf das von ihm verfolgte Ziel gewinnbringend einsetzbar sind. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit angestellten Betrachtungen können sowohl der dahingehenden Information des Nutzers dienen als auch als Grundlage für eine etwaige – gegebenenfalls auch schrittweise − methodische Weiterentwicklung des Moduls herangezogen werden.