TIERMEDIZIN IN BERLIN
EIN HISTORISCHER ABRIß
Martin F. Brumme und Eberhard Üecker
"Weil der Schaden, der aus Mangel an guten Roß- und Viehärzten entstanden, für das Land und die Cavallerie von den allertraurigsten Folgen sei. ",
beschließt Friedrich Wilhelm II. von Preußen im Jahre 1787 die Einrichtung einer "Thierarzneyschule" in Berlin und beauftragt zugleich seinen Oberstallmeister Karl Heinrich August Graf von Lindenau mit der Durchführung des Projekts. Von Lindenau, bis 1808 Direktor der Schule, beginnt noch im selben Jahr mit der Einstellung des zukünftigen Lehrpersonals: Am 1. April stellt er den Chirurgus Georg Friedrich Sick an. Zur Leipziger Herbstmesse verhandelt er mit dem Bakkalaureus der Medizin Johann Georg Naumann und verpflichtet diesen ebenso wie den Apotheker Christian Ratzeburg.
Die Vorgeschichte der Ausbildungsstätte
So hätte das Jahr 1987 zum 200 jährigen Jubiläum der Geburtsstunde einer Berliner tiermedizinischen Unterrichtsstätte werden können, wenn nicht die zukünftigen Lehrer selbst noch auszubilden gewesen wären. Von Lindenau schickt die drei auf Staatskosten ins Ausland, urn ihre medizinischen und arzneikundlichen Kenntnisse auf die Tierheilkunde auszurichten. lm europäischen Rahmen wurde im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die Grundlage einer wissenschaftlichen Tierheilkunde gelegt. Auch in den deutschen Staaten gründete man an vielen Orten tiermedizinische Schulen, bis im Jahre 1790 auch die Berliner Schule ihre Pforte öffnete Ihr Lehrgebäude wurde die von Langhans 1788-1789 erbaute Zootomie.
So wichtig die Schulen für die Entstehung einer veterinärmedizinischen Berufsgruppe in modernem Sinne werden sollte, so wenig ist damit die Veterinärgeschichte Berlins auf ihre Anfänge zurückgeführt.
Die Tierheilkunde war von jeher notwendige Tätigkeit all jener, denen der Umgang mit dem Tier oder dem tierischen Lebensmittel zum beruflichen Alltag gehörte. Sie entwickelte sich als Profession aus einer Vielzahl von agrarischen und handwerklichen Berufen und hatte somit bis weit ins 19. Jahrhundert deren Status, also einen noch geringeren als den des Chirurgen, Feldschers oder Baders. Erste Ansätze zur Professionalisierung sehen wir besonders beim Schmiedehandwerk und dem "unehrlichen " Gewerbe des Abdeckers (Wasenmeister, Schinder ), der häufig in Personalunion zugleich das Werk des Henkers ausübte. Diese, dem tierärztlichen Sozialprestige nicht eben zuträgliche Tradition mag die Ursache dafür sein, daß die wohl wichtigste Quellenstudie und Dokumentensammlung zur preußischen Veterinärgeschichte noch immer ungedruckt als Loseblattsammiung in den Archiven zweier deutscher Bibliotheken schlummert. Der Habilitationsschrift des Nestors der deutschen Veterinärgeschichte, Wilhelm Rieck, verdanken wir unsere Kenntnisse zur Berliner Tradition der Tierheilkunde und Veterinärmedizin.
"Ausgaben uff dem wilden (= Stuten)stall zu Reichstorff (=Rixdorf) 1 Schock 4 g(roschen) Andres Rusten vonn der schwartzen wilde zu heilen, so hernach gestorben Dornstag nach past"
lautet das früheste Dokument einer anscheinend erfolglosen - tierheilkundlichen Tätigkeit in Berlin, die die Rechnungsbücher der Stadt Cöln an der Spree aus dem Jahre 1568 übermitteln. Den erlernten Beruf von Rust kennen wir nicht. Möglicherweise ist er wie Hanns Doring Schmied gewesen, den die Rechnungsbücher des Jahres 1572 ausweisen, da er für Arzneizubereitungen einmal elf, ein anderes Mal dreiundzwanzig Groschen erhält. Welfare Urkunden dieses Jahrhunderts erwähnen einen Apotheker und mehrmals Schäfer "vor Arzney der Schaffen".
Andere Berufe von Tierheilkundigen birgt die große Zahl von Dokumenten zur Bekämpfung der Tierseuchen seit dem 16. Jahrhundert. Dieser mehrere Jahrhunderte währende, sich ständig wiederholende und erweiternde Katalog von Maßregeln deutet die Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit der Maßnahmen und die Widersetzlichkeit der Betroffenen an. Zugleich ist er Indiz der wachsenden Kenntnisse über Entstehung und Ausbreitung der Seuchen. Ein Erlaß des Brandenburg ischen Kurfürsten Johann Georg (1571-1598) gegen die "Schmerschaffe" eröffnet die Reihe. Gemeint ist die Räude der Schafe, eine Milbenerkrankung, die noch heute Gegenstand der neuesten Fassung des bundesrepublikanischen Tierseuchengesetzes ist. Unter der Androhung des Einzugs der Schafe wird "denen von Adell ... auch etzliche Schultzen vnd gemeine Pauern" abverlangt, "die Schmerschaffe ab[zulschaffen" und nicht mit gesunden zusammenzubringen - "Datum Cöln den 28. Octobris Anno 1579". Ein "Anschreiben an die land Reuter wegen Vorkummunge des Viehe sterbens" aus dem Jahre 1615 benennt eine Rinderseuche, vielleicht eine frühe Erwähnung der Rinderpest, die im 18. Jahrhundert ganze bäuerliche Landstriche verarmen ließ Kurfürst Johann Sigismunds (1608-1618) "ernster befehl gebietet in Kenntnis der Kontagiosität den Untertanen, ''daß sie das verstorbene Viehe ... in die Erde begraben, ... bei Vermeidung ernster Strafe".
Die Untersuchung und Seuchenbekämpfung stand unter der Leitung der Humanmediziner, die sich dabei auch der Dorfobrigkeit und der Abdecker bedienten. Letztere hatten unter ihrer Anweisung die Obduktion des befallenen Viehs vorzunehmen. Die Obduktionsberichte und Krankheitsbeschreibungen der Physici und Feldschere geben noch heute Anhaltspunkte zur Identifizierung der jeweiligen Seuchen. Diesen "Obduktionsübungen" hatten die Abdecker gewiß einen Teil ihrer tierheilkundlichen Fähigkeiten zu verdanken, wenn sich die Quelle ihrer Kenntnisse auch nicht darin erschöpfte. Ihre Bedeutung für die tierheilkundliche Versorgung läßt sich aus vier Gutachten von Dorfschulzen der um Bernau liegenden Ortschaften ermittein, die den preußischen König Friedrich 11. urn Entlassung des Bernauer Abdeckers Andreas Kleine aus der Festungshaft zu Spandau baten, 'Weil Er Ein tüchtiger Mahn ist an Kuhren an Pferde wie auch rint viehe". Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Abdecker und Henker Gegenstand eines Vorschlages zur Schaffung eines staatlichen Veterinärwesens: "Jeder Kreisscharfrichter muß examinierter Tierarzt sein. Dadurch wird er fähig, seinem Amte als tierärztlicher Polizeioffiziant mit Würde vorzustehen, dadurch bekommt der Staat unbesoldete und geschickte Tierärzte für jeden Kreis".
Im 18. Jahrhundert unterstanden die veterinärpolizeilichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Tierseuchen dem Obercollegium sanitatis zu Berlin, das auch nach Gründung der Tierarzneischule federführend blieb. Es lie13 sich Ausbruch und Umfang einer Seuche melden, forderte Obduktionsbefunde an, veranlaßte Untersuchungen und gab zuletzt die Bekämpfungsmaßnahmen vor. So führten Tierseuchen bekämpf u ng und medizinische Polizei direkt zur Entstehung der Königlichen Tierarzneischule zu Berlin, die bereits zwanzig Jahre zuvor hätte entstehen können, wenn das von Friedrich 11. angeregte Konzept des Geheimrats Christian Andreas Cothenius "Gedanken und Vorschläge zu einer aufzurichtenden Vieh-Artzeney-Schule oder Ecole Veterinaire" aus dem Jahre 1768 nicht aus finanziellen Gründen gescheitert wäre Die Schule scheiterte an dem, woran nützliche Projekte meist zu scheitern pflegen: am Geld.
Auch über die Gründung der Tierarzneischule hinaus ließ die erste Erwähnung eines Tierarztes" auf sich warten: Im Rescript an die Regierung in Marienwerder ... De dato Berlin, den 1 1.ten October 1806" spricht König Friedrich Wilhelm III. den Abdeckern das Recht ab, gerichtliche Gutachter in Tierseuchenfragen zu sein, weil "der Abdecker allerdings zu den Personen gehört, welche ein mit Verlust der bürgerlichen Ehre verbundenes Geschäft treiben". An seine Stelle sollte nun der Tierarzt treten.
1810 war der eingangs erwähnte Professor Sick der Gegenstand eines Briefes der Herren von ltzenplitz und Scharnweber an das Staatsministerium. Er wurde als Retter in einem neuen Tierseuchenzug gelobt - "seinem Fusse wich das Uebel stets" - und pikanterweise dem Professor Reckleben entgegengestellt, "der durchaus gar nichts hatte ausrichten können". Reckleben war kurz zuvor an Sicks Stelle getreten. Sicks Abschiedsworte lauteten, "Die Eleven sind fast rohe, von alien Kenntnissen entblößte Menschen, die zuviel Vorlesungen und zuwenig praktischen Unterricht haben". Dieses deutliche Wort und ein Vorschlag im oben zitierten Brief, ihn eine tiermedizinische Bildungsanstalt für "den Ökonomen selbst", das heißt Landwirte, Schäfer und Hirten gründen zu lassen, führten zu einem Konflikt, der das ganze 19. Jahrhundert dauern wird: Soil die Tiermedizin eine Wissenschaft oder ein Handwerk werden? Gehört die Tiermedizin zur Medizin oder zur Landwirtschaft? Sollen die Schulen fachschulmäßig oder universitär ausgerichtet werden? Kann "das landwirtschaftliche Ministerium ... das wissenschaftliche Element in der Ausbildung der Thierärzte ... stärken"? - dies wird noch 1873 der Abgeordnete Dr. Virchow bezweifeln und einen gegenseitigen Austausch und die gemeinsame Grundlage in der Methodik und den Prinzipien der Naturwissenschaft fordern. Die geschichtliche Entwicklung zur Naturwissenschaft wird Rudolf Virchows Postulate bestätigen und eine Tiermedizin als Wissenschaft, von der Methodik wie der institutionellen Einbindung, zum Ergebnis haben.
Eine weitere Bemerkung Virchows soil den zweiten großen historischen Strang beleuchten, auf dem die Entstehung der Tiermedizin fußt Auf der Sitzung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1872 kritisierte Virchow die enge Bindung der Veterinärmedizin an "die Interessen des Kriegsministeriums". Virchow berührt hier einen Zusammenhang, der noch mehr als die Tierseuchen bekämpfung und frühe Tierheilkunde die Tiermedizin geradezu konstituiert hat, denn die Tiermedizin hat im und durch den militärischen Zusammenhang erst entstehen können, und auch im 19. Jahrhundert erwuchs nur langsam aus der geringen Zahl der "Zivileleven" an der Tierarzneischule, die dort neben den Fahnenschmieden ausgebildet wurden, der personelle Grundstock für den nichtmilitärischen Bedarf des staatlichen Veterinärwesens und die Versorgung des Tierbestandes der Bevölkerung.
Die Wurzeln der militärischen Bindung reichen weit zurück: lm 16. und 17. Jahrhundert benötigten die Söldnerheere für ihre berittenen Abteilungen Schmiede, die einen auf Erfahrung beruhenden Wissensschatz in der Pferdeheilkunde ansammelten.
Die Vita Martin Böhmes (ca. 1559-1636), ab 1598 Reit- und Kurschmied von vier brandenburgischen Kurfürsten, ist exemplarisch: Ab 1574 befand er sich im Holländischen Freiheitskrieg als Bursche eines Obristen und lernte unter einem Reitschmied sein Handwerk, das er in einer Reihe weiterer Kriege ausübte. Schließlich kam er 1592 an den Berliner Marstall und nahm 1636 noch nach seinem Aufstieg zum "Churfürstlichen Gnaden Pferdearzt" als Reitschmied am Dreißigjährigen Krieg teil. Martin Böhme steht als Feldschmied wie als höfischer Marstallschmied für eine Tradition und Kontinuität, in der pferdeheilkundliches Wissen gesammelt und an die Schüler weitergegeben wurde. Er symbolisiert auch die Professionalisierungstendenz, die aus dem Schmiedehandwerk die Gruppe der tierheilkundlich tätigen Kurschmiede entstehen lies. Lokalhistorisch bedeutsam ist zudem, das ihm, das erste tierheilkundliche Buch Berlins zu verdanken ist. Martin Böhmes "Ein New Buch von bewehrter Ross Artzeneyen", Berlin 1616, ist eine Kompilation des 1583 in Augsburg erschienenen "Buch von der Rowartzney" Mang Seuters und erlebte bereits 1697 seine 12. Auflage. Vielleicht begründete er die pferdeheilkundliche Lehranstalt, die bis 1711 eine Reihe von Scholaren als Reitund Fahnenschmiede ausbildete. Diese Ausbildung wurde unter König Friedrich 1. eingestelit, da man hatte "warnehmen müsses, dass diejenigen, welchen Seine Königliche Majestät die Pferde Curen bey dero Mahrstall lernen lassen, solche gemissbrauchte".
Die lange Reihe der Reit- und Kurschmiede an Berliner Marställen übergehend, soil nur noch auf den letzten Vertreter dieser Tradition eingegangen werden: Johann Wilhelm Krumm(Krum) wurde nach dem Tode Friedrichs 11. im Jahre 1786 vom Oberstallmeister Graf von Lindenau eingestellt. Seine 1788 in Potsdam fertiggestellte Handschrift "Hippostologie oder Pferd-Knochen-Lehre" ist entsprechend Wilhelm Riecks Untersuchungen - eine Komplikation des 1772 in Paris erschienenen "Cours d'Hipp'atrique" von Philipp Etienne Lafosse und des 1774 in Dresden und Leipzig erschienenen Werkes von Christoph Friedrich Weber "Kurzer Begriff von der Knochenlehre des Pferdes zu seinen Vorlesungen in der Vieharzneyschule zu Dresden entworffen". Zugleich könnten Mitschriften zu Webers Vorlesungen in Krumms Handschrift mit eingeflossen sein. Er wurde zum Mittler zwischen dem alten System der Marstallheilkunde und der eben gegründeten Tierarzneischule. Welche Leistungen ihm im Gegensatz zu seinen medizinisch vorgebildeten professoralen Kollegen Naumann und Sick zugetraut wurden, belegt die Tatsache, das ihm als Prosektor die Krankenbehandlung unterstellt wurde. Mit seinem Tode im Jahre 1809 endete zwar die Tierheilkunde der Berliner Marställe, nicht aber der militärische Einflufß auf das neu entstehende Ausbildungssystem: Die neugegründete Schule blieb bis 1817 unter der Leitung der Königlichen Oberstallmeister, sie bildete zunächst hauptsächlich Fahnenschmiede aus und klagte noch Mitte des Jahrhunderts über einen Mangel an Zivileleven.
Das 19. Jahrhundert
Um 1800 geriet die Berliner Tierarzneischule in ihre erste "Ausbildungskrise". Mit dem Unterricht für überwiegend ungebildete Eleven waren die vor allem humanmedizinisch ausgebildeten Lehrer (Professoren Naumann, Sick, Reckleben und Apotheker Ratzeburg) fast überfordert. Der Unterricht zeichnete sich durch mehr Empirie als durch Wissenschaftlichkeit aus. Darüberhinaus fehlte Geld, 1809 befanden sich nur 14 Eleven an der Schule, so daß sich die Staatsbehörden mit der Situation an der Schule beschäftigten.
Staatsrat Langermann und Medizinalrat Rudolphi legten 1815 der obersten Leitung der Tierarzneischule (TAS), dem Ministerium des Inneren und des Krieges, einen Reorganisationsplan vor, der durch Initiative von Minister Altenstein vorangetrieben wurde, jedoch erst zwischen 1822 und 1836 Erfolge zeigte. Die wichtigsten Forderungen waren: "Planmäßig und reichlicher unterrichten" sowie "repetieren und examinieren". Auch Wilhelm v. Humboldt forderte 1810 mit einer Denkschrift mehr Wissenschaftlichkeit und die Einverleibung der TAS in die Universität.
Diese wissenschaftliche Ausbildungsrichtung wurde im 19. Jahrhundert vor allem durch solche Persönlichkeiten wie GurIt (1794-1882), Hertwig (1798-1881), Spinola (1802-1872) und Gerlach (1811-1878) gewährleistet.
Drei weitere wichtige Ereignisse der TAS kennzeichneten das 19. Jahrhundert: - Die Fertigstellung und Übergabe des neuen Lehr- und Wohngebäudes in der Luis-enstraße 56 im Jahre 1840/41 (Baumeister: Hesse);
- die Verleihung der Hochschulwürde am 20.6.1887 durch allerhöchste Kabinettsorder;
- die Jubiläumsfeiern zum 100 jährigen Bestehen der Schule 1890, an denen Delegationen aus fast alien führenden TAS der Welt teilnahmen.
Die wissenschaftliche Entwicklung soil nur an wenigen Kristallisationspunkten aufgezeigt werden. Als naturwissenschaftliche Leitdisziplin muß für den größten Teil des 19. Jahrhunderts die Anatomie gelten, deren großer Repräsentant Ernst Friedrich GurIt war. Er trat 1819 als Repetitor in den Dienst der Schule, wurde 1826 Professor, 1849 ihr technischer Direktor und behielt these Position bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1870, als er von Andreas Christian Gerlach abgelöst wurde. Neben seinen Arbeiten zur vergleichenden und pathologischen Anatomie war GurIt zusammen mit seinem Kollegen Car] Heinrich Hertwig der Herausgeber der bedeutendsten wissenschaftlichen Zeitschrift seiner Zeit, die die Tiermedizin in Deutschland hatte: Das "Magazin für die gesamte Thierheilkunde", ab 1835 in Berlin erscheinend, vereinigte Nachrichten aus Wissenschaft, tierärztlicher Praxis und dem Berufsleben.
Die Entwicklung eigenständiger Disziplinen innerhalb des Faches folgte teils den humanmedizinischen, teils den spezifischen Bedürfnissen der Tiermedizin, wobei aufgrund des tierärztlichen Dispensierrechtes die Pharmakologie und Galenik jedoch auch die Spezialisierung auf einzelne Tierarten sowie die Tierzucht und die Lebensmittelhygiene herauszuheben sind. Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden Physiologie und Bakteriologie zu den bedeutendsten naturwissenschaftlichen Leitdisziplinen. Was letztere betrifft, kann nochmals die Tierseuchen problematik und als Beispiel die Tuberkulosebekämpfung angeführt werden. Als Anthropozoonose (zwischen Mensch und Tier Obertragbare Krankheit) verdeutlicht sie die Verknüpfung von Humanund Tiermedizin und erinnert an die praktische Umsetzung der bakteriologischen Erkenntnisse in der Tierseuchengesetzgebung, die vor allem Robert von Ostertag betrieb.
Von 1890 bis 1945
Die Jahrzehnte urn die Jahrhundertwende waren von weiteren Bestrebungen der Tierärztlichen Hochschule zur Profilierung als vollanerkannte und gleichgestellte akademische Ausbildungseinrichtung gekennzeichnet.
Zunächst war ab 1902 die Hochschulreife Voraussetzung für ein Studium an der Tierärztlichen Hochschule geworden. 1903 wurde der Hochschule das Rektorenwahlrecht verliehen und 1905 wurden die bisherigen Titularprofessoren der Hochschule den Universitätsprofessoren gleichgestellt, ihre vollständige rechtliche Gleichstellung gelang aber erst 1917.
Am 05.09.1910 erhielt die Hochschule das Promotionsrecht, schon am 27.01.1911 wurden die ersten 12 Kandidaten zum Doctor medicinae veterinariae promoviert. Durch das Habilitationsrecht wurde 1918 die Entwicklung zu einer akademischen Ausbildungsstätte nach 128 Jahren abgeschlossen.
Am 01.11.1934 wurde die Hochschule gemeinsam mit der Landwirtschaftlichen Hochschule als Landwirtschaftlich-Tierärztliche Fakultät in den Verband der Friedrich-Wilhelms-Universität aufgenommen. 1937 entstand eine selbständige Veterinärmedizinische Fakultät an der Universität.
1940 kam es nicht zur geplanten glänzenden 150-Jahrfeier - wegen der "ernsten Zeit". Der 11. Weltkrieg hinterließ sowohl an den Gebäuden als auch in der Belegschaft grausame Spuren. Dem unermüdlichen Einsatz der Dobberstein, Lerche u. a. sowie vielen tatkräftigen Mitarbeitern war es zu verdanken, daß das Studium bereits 1946 wieder beginnen konnte.
Von 1945 bis heute
Ein friedfertiges Studium nach dem Krieg, wie es Studenten und Lehrer wünschten, viele von ihnen hatten Fronterlebnisse gerade hinter sich gebracht, sollte sich als Illusion erweisen. Bereits zum 3. Volkskongreß 1949 wurde deutlich, daß in Zukunft mit Einheitslisten Politik gemacht werden würde Die 2. Hochschulreform 1950 (Einf0hrung von Marxismus-LeninismusVorlesungen und Russisch als Pfichtfach) sowie die 2. Parteikonferenz der SED 1952 (Festigung der Arbeiter und Bauernmacht) verstärkten auch an der Universität den politischen Druck.
Die Folge war, daß in den 50er Jahren 7 Professoren, 30 Assistenten und 200 Studenten die Berliner Fakultät verließen, urn in den "Westen" zu gehen. So entstand in Westberlin über die "Notgemeinschaft der Veterinärmediziner" letztlich der Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universitcät Berlin.
Die 3. Hochschulreform 1968 verfügte die Gründung der Sektion Tierproduktion und Veterinärmedizin" an der Humboldt-* Universität. Die Folge war eine diskriminierende Politik gegenüber der Tierärzteschaft, nicht nur an der Fakultät. Die Führung übernahmen SED-beeinflußte Agrar-Politologen, enge Bindungen zur Humanmedizin waren nicht erwünscht.
Nach der Wende erlangte die Veterinärmedizinische Fakultät. der Humboldt-Universität wieder ihre Eigenständigkeit und konnte 1990 zusammen mit dem Fachbereich Veterinärmedizin" der Freien Universität. das 200 jährige Jubiläum ihrer alma mater feiern.
An der Freien Universität. waren zwei Standorte für die wissenschaftlichen Einrichungen der Veterinärmedizin" entstanden: Dahlem mit den hauptsächlich vorklinischen Fächern und Düppel als Klinikbereich. In den letzten Jahren zeichnete sich die Chance der Konzentration der Ausbildung an einem Ort ab: die Planung für den Ausbau des Bereichs Düppel war fortgeschritten, weitere paraklinische Institute waren bereits errichtet.
Am 04.06.1992 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus das "Fusionsgesetz". Es installierte ein Gründungskommitee für die zu vereinigenden Fakultäten, dem ein Gründungsdekan vorsteht. Nach dem Gesetz wurde der neue (gemeinsame) Fachbereich mit Wirkung vom 01.10.1992 errichtet und zunächst für einen Zeitraurn von 5 Jahren der Freien Universität. in Berlin zugeordnet, über die endgültige Zuordnung entscheidet dann das Berliner Abgeordnetenhaus. Ob Freie Universität. oder Humboldt-Universität, erfolgreiche Arbeit war in beiden Teilen Berlins geleistet worden, wenn auch im Ostteil der Stadt unter erheblich schwereren Bedingungen. Die chronische Mangelwirtschaft der DDR wie auch die politische Depression hatte das ihre zu den Schwierigkeiten beigetragen.
Schlußbemerkung
Der neue, der fusionierte Fachbereich unter dem Dach der Freien Universität stellt sich in dieser Ausstellung der Öffentlichkeit. Er möchte damit in einer jedem zugänglichen Form die Diskussion über die Zukunft der Veterinärmedizin" eröffnen. Dies gilt ihm als vornehmste Pflicht einer hauptstädtischen Veterinärmedizin: Zentrum des Gesprächs, des wissenschaftlichen und berufspolitischen Austausches, Begegnungsort für Konzepte der Gegenwart und Ort der Besinnung auf die Vergangenheit zu werden. Auch deshalb muß in Berlin ein "Haus der Veterinärmedizin" für ganz Deutschland am Standort Mitte bleiben. .